Bibelübersetzung in der Zerreissprobe
Die geistlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte haben auch vor der Übersetzung der Bibel nicht halt gemacht, sondern sie voll erfasst. Als Grundlage für alles, was Christen glauben und tun, ist die Bibel logischerweise eines der Angriffsziele für Neuerer, Verbesserer und «Revolutionäre» aller Art. Kürzlich habe ich in den «Endorsements» für eine neue Englische Übersetzung folgendes Statement gelesen, das in subtiler Weise zum Ausdruck bringt, was viele heute von einer Bibelübersetzung erwarten, ohne sich bewusst zu sein, welche Türen sie damit öffnen.
«Diese neue Übersetzung ist eine erfrischende, dynamische Version der alten Schriften. Die meisten Übersetzungen der Bibel vermitteln das, was Gott gesagt hat, aber diese neue Übersetzung vermittelt genauso sehr das Herz Gottes hinter den Worten.»
Es geht nicht um diese bestimmte Ausgabe (daher wurde ihr Name anonymisiert), sondern um eine allgemeine Tendenz. Das Zitat (geschrieben von einem Leiterehepaar, das mit Bibelübersetzung nichts zu tun hat) enthält eine naive und zugleich gefährliche Fehlannahme; nämlich die Vorstellung, dass das, was Gott in seinem Wort gesagt hat womöglich nicht dasselbe ist, wie das, was er in seinem Herzen hat oder das, was sein eigentliches Motiv ist. Wenn man von diesem neuen Paradigma ausgeht, das im Grunde allen dynamisch-äquivalenten Übersetzungen und Paraphrasen der vergangenen Jahre in irgendeiner Form gemeinsam ist, dann ergeben sich daraus einige neue Forderungen: 1) Die richtige Übersetzung des Grundtextes ist nicht mehr ausreichend, sondern nur das Gerüst für eine weitergehende Bearbeitung des sprachlichen Materials; 2) der Übersetzer muss selbst «das Herz Gottes» so gut kennen, dass er es den Lesern vermitteln kann; 3) der Übersetzer muss im ganzen Prozess der Umsetzung vom Grundtext zum fertigen Produkt gesalbt oder geistgeführt sein, wie die biblischen Schreiber selbst es waren (was eine unmögliche und falsche Forderung ist, die den Übersetzer sozusagen auf die selbe Stufe hebt, wie die biblischen Schreiber).
Diesem Ansatz muss aus bibeltreuer Sicht klar widersprochen werden. Zu 1): Schon die Vorstellung, dass die Worte Gottes und «sein Herz» zwei verschiedene Ebenen sind, ist ein Irrtum, der dem Wesen der Heiligen Schrift und dem Glauben an sie entgegensteht. Jede gute Bibelübersetzung bringt immer Gottes Wort und damit direkt verbunden auch «sein Herz» zum Ausdruck. Psalm 12,7 bringt es auf den Punkt: «Die Worte des HERRN sind reine Worte Silber, am Eingang zur Erde geläutert, siebenmal gereinigt.» Das Ziel jeder treuen Bibelübersetzung kann und darf deshalb ausschließlich darin bestehen, das vorhandene sprachliche Material möglichst gewissenhaft in die Zielsprache zu übersetzen – die Worte selbst enthalten ja «Gottes Herz» und wahre Absicht! Zu 2): Die normale Befähigung des Übersetzers besteht darin, dass er sowohl die Ausgangssprache als auch die Zielsprache beherrscht, Erstere korrekt interpretiert und Letztere im Sinne des «Griffels eines geübten Schreibers» führt. Natürlich gibt es hier Spielraum, aber die Vorstellung, dass man «Gottes Herz» in einer Übersetzung quasi separat vermitteln kann oder muss, öffnet Tür und Tor für jede Art von Spekulation und Phantasie (was die entsprechenden Übersetzungen auch hinlänglich beweisen). 3) Der Übersetzer ist kein «Schreibknecht Gottes», der unter der Salbung inspiriert seine Wahrnehmung oder Version des «Herzens Gottes» vermittelt, sondern ein dazu ausgebildeter, theologisch geschulter, sprachlich versierter «Sekretär», der sich selbst zurücknimmt und seinem Auftraggeber (Gott) vertraut, dass dessen Worte an sich gesalbt sind.
Das NTR (Neues Testament Roth) ist darum kein Versuch, irgendetwas zu vermitteln, das nicht im Sprachschatz des Grundtextes enthalten ist, sondern bezieht sich ausschließlich auf den Text sowie nachprüfbare und anerkannte Inhalte der neutestamentlichen Forschung. Die Qualität dieser Übersetzung besteht nicht in besonders gewählter, phantasievoller oder gefühlvoller Formulierung, sondern in gewissenhafter und ausführlicher Umsetzung aller sprachlich relevanten Informationen.
Wie unsinnig das Ergebnis des falschen Anspruchs einer nicht-wörtlichen Übersetzung sein kann, zeigt folgendes Beispiel besonders deutlich. Eine bekannte Übersetzung des NT, die gerne ihren wissenschaftlichen und bibeltreuen Anspruch hervorhebt und in den letzten Jahren weite Verbreitung gefunden hat, liest den ersten Teil von 2. Korinther 8,9 wie folgt: «Ihr wisst ja, woran sich die Gnade von Jesus Christus, unserem Herrn, gezeigt hat: …». Das klingt erst einmal nicht schlecht oder falsch, allerdings nur solange man es nicht mit dem Grundtext – dem einzigen verbindlichen Massstab für Worttreue – vergleicht. Im Griechischen heisst es hier schlicht: «Denn ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus …» – richtig, das ist zugleich auch der Wortlaut der Elberfelder Übersetzung, aber etwas anderes steht beim besten Willen nicht im Grundtext! Anspruch und Wirklichkeit klaffen hier sehr weit auseinander; die oben zitierte Übersetzung, die der Philosophie der dynamischen oder funktionalen Äquivalenz folgt, nimmt einen einfachen Satz im Indikativ und macht daraus eine unnötig umständliche, rhetorische Formulierung, die bei weitem nicht mehr die Kraft und Direktheit der eigentlichen Aussage von Paulus vermittelt. Stattdessen fügt sie eine Ebene ein, die mit keiner Silbe erwähnt wird, nämlich die verquere Umschreibung «woran sich die Gnade … gezeigt hat». Gemäss Grundtext hat sich die Gnade nicht «gezeigt», sondern Paulus stellt klar und direkt fest, dass seine Leser die Gnade kennen! Nebenbei: In einer derart einfach verständlichen Formulierung («die Gnade unseres Herrn Jesus Christus») den Genitiv des Grundtexts aufzugeben und stattdessen «von Jesus Christus, unserem Herrn» im Dativ zu schreiben, zeugt von einer hohen Bereitschaft, sich auch sprachlich dem Zeitgeist zu beugen.
Ist das die Richtung, in die Bibelübersetzung in unserer Zeit gehen sollte? Entschieden nein; was wir brauchen ist eine Rückkehr zu einfachen, im besten Sinne schlichten, und daher überzeugenden Umsetzungen des in sich inspirierten Wortes Gottes, die der wilden Beliebigkeit modernen Denkens und all seinen Relativierungsbemühungen tatsächlich etwas entgegenzusetzen haben. Für diese Überzeugung steht das NTR.